Eine Reise zurück an die EU-Grenze, wo viele ihre Liebsten vor einem Jahr verloren haben.
Sie wollten sich bei den lokalen Menschen bedanken, die ohne an die Gefahr für ihre eigenes Leben zu denken, am 5.Oktober 2022 gerettet haben. Die Überlebenden, die in dieser Reise zusammen gekommen sind und viele andere, insgesamt 80 Menschen, die sonst sicher nicht mehr Leben wären. Zusammen wurde eine Memorialzeremonie gehalten, am Strand von Diakofti, dem Ort, an dem die Nacht vom 5.10.2022 für alle für immer präsent bleiben wird.
“Der 05. Oktober bleibt für uns alle ein unauslöschliches Datum. In dieser Nacht kenterten zwei Boote vor den griechischen Küsten, eines davon direkt vor der Insel Kythira. Die Menschen auf den Booten waren auf der Flucht vor Krieg und Terror – erfüllt von der Sehnsucht nach einer sicheren Zukunft. Hier an diesem Ort, ganz in der Nähe des Hafens, krachte das Boot auf einen Felsen. Die Wellen waren hoch und es war Nacht. Viele Bewohner*innen der Insel kamen und versuchten, die Menschen mit allen möglichen Mitteln zu retten. Sie retteten mit ihrem Einsatz 80 Menschen. Mindestens 15 Personen verloren in dieser Nacht dennoch ihr Leben.
Als die Tragödie bekannt wurde, machten sich die Angehörigen, die konnten, auf den Weg nach Kythira. In dieser Zeit des Schocks und des Verlustes lernten sich dort Überlebende und Angehörige und solidarische Initiativen und hilfsbereite Menschen kennen.
Einige der Toten konnten gefunden, identifiziert und beerdigt werden, andere sind immer noch verschwunden. Die Überlebenden wurden in menschenunwürdigen Camps untergebracht und kämpfen um ihre Aufenthaltserlaubnis und ein sicheres Leben.
Seit Oktober 2022 blieben wir – einige der Überlebenden und Angehörigen in Kontakt. Im März 2023 erinnerten wir uns in Erfurt mit einem Abend “Ein Meer voller Tränen” an das Geschehene. Mehr als 200 Menschen schufen Raum für Trauer, Schmerz und Gedenken, aber auch für Mut und Hoffnung. Es war möglich, die Anwesenheit derer zu spüren, die nicht mehr unter uns sind. In dieser berührenden Atmosphäre wurde die Idee konkreter, nach Kythira zurückzukehren.
Heute sind wir hier in Kythira mit allen zusammengekommen. Wir trauern und wir gedenken. Wir halten die Erinnerung an die Menschen wach, die im Meer gestorben sind. Wir kommen auch mit Wut über die europäischen Grenzen, die sie getötet haben. Wir kommen mit dem Wunsch, eine andere Zukunft in Solidarität und ohne Grenzen aufzubauen. Es ist unser Widerstand.”
So erzählten Shuja und Sultana zu Beginn des Memorials die Geschichte, wie wir alle zusammen gekommen sind und leiteten die Reden der Überlebenden und Familienangehörigen ein.
Khadijah, die ihren liebsten Mann Abdul Wase Ahmadi in dieser Nacht verloren hat, begann, sie sagte:
“Ich steh hier und will euch so viel Worte sagen. Aber die Wellen hinter mir machen mich ganz traurig und ich finde die Worte nicht mehr. Die letzen Worte von meinem Mann waren: wer wird uns hier retten? Ihr seid gekommen und habt in Gefahr für eure Leben, uns gerettet. Dafür sind wir hier um uns zu bedanken. Euch zu umarmen. Wir sind jetzt eine Familie. Wir werden Euch nie vergessen. Danke!”
Zameer, der seine Mutter seine Schwester und sein Bruder verloren hat, stand mit dem Rücken zu Meer, das zum Grab wurde:
“Ich habe hier meine ganze Familie verloren, in diesem Meer, aber ihr habt mich gerettet. Ich wollte danke sagen. Wenn ich hier weg gehe, lass ich euch meine Familie hier, bitte passt auf sie auf!”
Mit den herzzerreißenden Erklärungen von den Überlebenden und mehr als 100 Menschen die gekommen waren, um zusammen mit ihnen an diese Nacht und an die Toten zu gedenken, berührte die Zeremonie am 5.10.23.
In den Tagen zuvor hatten die 25 Reisenden zurück, darunter 12 Überlebende und Familienangehörige von Vermissten und ihre Unterstützende unter anderem aus Hamburg, Erfurt, München, Athen und Kalamata täglich Gespräche und Begegnungen mit den Menschen, die sie gerettet haben dieser Nacht:
Dimitris, der den Kran seines Onkels nahm und sich damit an den Rand des Abgrunds stellte und so Khadijah, Hussein, Masih und viele andere vom sicheren Tod rettete.
Kostas, der beim Memorial Klarinette gespielt hat, der mit anderen mit Seilen und nur der Kraft ihrer Hände und ihres Willens viele Menschen hochziehen konnten.
Der zweite Bürgermeister und freiwilliger Feuerwehrmann, der unauffällig überall alles ermöglichte.
Der Feuerwehrmann Spyros, der mit zwei seiner Kollegen, sich mit seiner privaten Ausrüstung an dem gefährlichen Abhang abseilte, um den Menschen Anweisungen zu geben, wie sie sich mit dem Seil hochziehen lassen sollen.
Alle, die die nächsten Tage kochten, Klamotten brachten, Wunden heilten, Sorgen trösteten, Fragen beantworteten un die vielen Verwandten, die sofort aus dem Ausland kamen, wie Familie trösteten und halfen durch die Bürokratie.
Viele der Überlebende, die nicht mit reisen konnten, haben am 5.Oktober in einem live-stream zugehört und waren so auch dabei. Manche hatten eigene Reden geschrieben und Sprachnachrichten geschickt.
Eine alte Dame in schwarz sass die ganzen zwei Stunden auf einem Stuhl am Strand und hörte aufmerksam zu, wie alle Reden in Dari auf deutsch und griechisch übersetzt wurden. Vier Küstenwachenoffiziere, ein Priester, ein Lehrer mit seinen kleinen Schülerinnen, viele der Menschen, die mit was sie immer hatten die Tage unterstützt haben – alle konnten nicht fassen, dass die Menschen wieder gekommen sind, die Kraft hatten, zurück zu kommen und schlossen sie noch mehr in ihre Herzen.
Am Tag davor hatten die Überlebende alle, die sie gerettet haben, zu einem afghanischen Essen eingeladen, an einem wunderschönen Ort, in einen Tal mit Fluss und Quelle, Amir Ali. Hier an diesem geschützten Ort, konnten viele sich zu ersten Mal wieder in die Arme schliessen und austauschen. Viele der locals sagten, dass sie mit niemandem sprechen über diese Nacht, sie wollen keinen belasten in ihren Familien, aber ständig kommen die Bilder vor ihre Augen. Jetzt durch diese Reise hatten sie endlich andere wieder gefunden, mit denen sie die schmerzhaften Erfahrungen austauschen können.
“Ich nehme meine Sonnenbrillen nicht ab und ihr versteht warum.” sagte Giannis.
Und der andere Giannis, der Koch, der nachdem er Menschen gerettet hatte noch seiner Kneipe die Küche aufmachte und kochte, alles was er hatte, damit die Überlebenden was zu essen bekommen sagt: “Solidarität ist ein grosser Kochtopf. Allilegii ine ena tsoukali.”
Diejenigen, die ihr Leben an diesen Grenzen verloren haben, werden wir niemals vergessen.
Wir sind in unseren Gedanken mit all jenen, die in Lampedusa und an so viele anderen Orten an ihre Liebsten denken, deren Leben an diesen tödlich Grenzen endete. Wir haben einen Moment inne gehalten und werden nun gemeinsam weiter gehen. Die Grenzen niederzureißen und eine andere Welt des Willkommens aufzubauen.